Interview mit Sammler Wilhelm Staudinger

CHARLIE, THE BESTSELLER - Website

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Interview mit Sammler Wilhelm Staudinger

Wie ist das Chaplin-Archiv entstanden? Wie kamen Sie dazu, eine solch immense Sammlung mit Dokumenten zu Leben und Werk von Charles Chaplin zusammenzutragen?
Wilhelm Staudinger im Deutschen Filmmuseum - 21.02.2012 -Schuld an meiner Sammeltätigkeit ist eigentlich der Bastei-Verlag, bekannt durch Romanheftchen wie Jerry Cotton, Courths-Mahler, Fürsten-, Liebes- und Heimatromane. 1955 startete er eine Reihe „Prominent“ und als Band 1 erschien „Charlie Chaplin, König des Lachens“. Ich erbettelte dieses Heft von meiner Großmutter und musste nun lesen, welchen Anfeindungen, Verleumdungen und Verfolgungen Chaplin in Amerika ausgesetzt war – ausgerechnet in Amerika, das für mich als Zwölfjährigen das Land der Freiheit und Demokratie war. Ich wollte mehr darüber erfahren, was in der Schule nicht gelehrt wurde und begann alles zu sammeln, was damit zusammenhing. Ich bin also nicht zuerst Püppchen und Postkarten nachgejagt, sondern Büchern, Zeitungen und Zeitschriften.

Warum gerade Chaplin? Was hat Sie an ihm fasziniert: Charles oder seine Figur Charlie?
Beide. Ehe ich Charles kannte, natürlich nur Charlie auf der Kinoleinwand. Der Grund: Man lacht über die Späße der meisten Komiker ohne mit ihnen zu fühlen. Bei Chaplin lacht und fühlt man mit ihm. Und seine Augen: „das Tor zu seiner Seele“, wie das ein Kritiker so schön beschrieben hat. Aber es hat mich ebenso der Mensch fasziniert, mit seiner einmaligen Lebensgeschichte, seinen Erfolgen, seinen Problemen, seinen Wirkungen auf die Umwelt.

Bereits 1915 berichtete ein Artikel, dass die Welt von „Chaplinitis“ befallen sei – einer regelrechten Charlie-Mania. Erstaunlich, wie beliebt Charlie bereits nach seinen frühen Filmen war.
Und warum? Eben weil sich die Zuschauer mit ihm identifizieren konnten, sobald sich der Tramp schon nach wenigen Filmen vom geilen Raufbold zu dem Typ entwickelt hatte, der weder ein Held noch ein Engel war, dem man aber seine Streiche gern verziehen hat, weil man sie nachempfinden konnte.

Für die deutschen Intellektuellen wurde Chaplin schon früh zum Thema. Einer der ersten war Kurt Tucholsky, der ihn in einem Essay von 1922 als den „zweifellos berühmtesten Menschen“ bezeichnete.
Noch früher hat schon Hans Siemsen begeistert über ihn geschrieben, nämlich 1920 in seinem Buch „Wo hast Du Dich herumgetrieben“, in dem er beschreibt, wie er erwartungsvoll im Zug nach Dänemark sitzt, um sich einen Chaplinfilm anzusehen und wie er immer wieder, tief beeindruckt, ja fast verliebt, eine ausländische Postkarte mit dem Bild Charlies betrachtend.

Was bei Durchsicht von Presseartikeln auffällt, ist, dass sich Meldungen über Chaplin häufig nicht durch Genauigkeit auszeichnen. Wie erklären Sie sich das?
Chaplin war wenig mitteilsam gegenüber der Presse. Die aber musste den Neuigkeitenhunger der Leser stillen. Also half man sich und erfand Interviews und Sensatiönchen.

Chaplin, der Regisseur, Autor und Schauspieler, hatte eine ungeheure Beobachtungsgabe. Seine Fähigkeit, Situationen nach- bzw. seinen Schauspielern vorzuspielen, wird immer wieder als eines seiner ganz besonderen Talente hervorgehoben. Ist dies das Fundament seines Erfolges, bzw. das seiner verschiedenen Rollen?
Sehr gut kann man sogar noch in seinem letzten Film Die Gräfin von Hongkong sehen, wie er Schauspieler formen konnte. In einer der schönsten Szenen dieses Films sitzt die Gräfin, Sophia Loren, dem verärgerten Millionär, Marlon Brando, gegenüber und will ihre siegessichere Unbekümmertheit demonstrieren, indem sie wie gelangweilt in einem Buch blättert. Sie hält das Buch aber verkehrt und muss es mehrmals drehen, und rutscht dann noch ab, als sie sich betont lässig auf die Armlehne stützen will. Ein Kabinettstückchen sanfter Komik! Man hat förmlich den Eindruck, dass nicht die Loren spielt, sondern Chaplin. So waren auch viele seiner Partner und Partnerinnen nur groß im Zusammenspiel mit ihm, nicht aber als eigenständige Schauspieler. Aber ein sicherlich ebenso wichtiges Fundament ist seine Fähigkeit, die Zuschauer miterleben, mitfühlen zu lassen, eine Identifikationsfigur geschaffen zu haben. Glaubwürdigkeit war für Chaplin immer höchstes Gebot in seinen Filmen.

Ab wann und wo liefen die Chaplinfilme in Europa?
Naturgemäß liefen die ersten Chaplinfilme ab 1914 in England, wo ihm bereits ein halbes Jahr, nachdem er zu filmen begonnen hatte, eine eigene Seite im Filmmagazin gewidmet wurde. Aber auch in Frankreich liefen die Filme bereits, nur in Deutschland noch nicht.

Chaplin in Deutschland. Wann kamen seine Filme hier in die Lichtspielhäuser? Bei seinem ersten Berlinbesuch 1921, waren da dem Publikum die Filme bekannt?
Ab Spätsommer 1921 kamen die ersten Chaplinfilme nach Deutschland, obwohl Chaplin schon viel früher in kurzen Notizen erwähnt wurde. Nur einen Monat danach war er in Berlin – es kannte ihn also kaum jemand, abgesehen von einigen Filmleuten. Chaplin war damals höchst erstaunt und auch verunsichert, dass er so ohne jede Beachtung durch die Straßen gehen konnte, wohingegen ihn in Frankreich und England Menschenmassen empfingen und Wochenschauen über seinen Besuch gedreht wurden.

Wie entwickelte sich Chaplins Bekanntheitsgrad in Deutschland? Wie war das mit seinen Kurzfilmen und seinen ersten großen Filmen? Gibt es da einen bestimmten Titel, ein besonderes Jahr des Durchbruchs?
Als erster Film in Deutschland war Ende August 1921 The Rink („Die Rollschuhbahn“) zu sehen. Dann kamen fast zeitgleich die späteren und frühen Filme gemischt. Der zweite Film – noch während seines Berlin-Besuchs – war The Idle Class. Dann kamen Pay Day und The Pilgrim, also alles Filme ab 1919, dann wieder einige Kurzfilme von 1914 und 1925 The Kid aus dem Jahr 1921. Das Publikum konnte also nicht die Entwicklung des Tramps chronologisch verfolgen, sondern sah höchste künstlerische Reife neben ziemlich primitiven Haudrauf-Filmen, wie zum Beispiel „Chaplin sitzt im Hühnerstall“ (The fatal Mallet) von 1914. Der Durchbruch kam lawinenartig, denn Publikum wie Kritik wurden gleich mit den Filmen bekannt gemacht, die auch heute noch zu seinen großen Klassikern gehören.

Wieso kam es zu dieser Verzögerung ausgerechnet in Deutschland?
Erster Weltkrieg, Inflation, vor allem aber die Kontingentierung der Einfuhr von amerikanischen Filmen zum Schutz der inländischen Filmproduktion. Erst ab Anfang 1921 konnten solche Filme in größerem Umfang eingeführt werden.

Wie war Chaplins Deutschlandbild?
Da sich Chaplin nie dazu geäußert hat, ist man auf Spekulationen angewiesen – und da will ich lieber bei den Tatsachen bleiben. Tatsache ist, dass er von deutschen Philosophen und deutscher Musik sehr beeindruckt war – ich will hier als Beispiel Wagner nennen, von dem er so manche Anleihen genommen hat. Er hatte auch Kontakt mit vielen Deutschen, die nach Amerika emigriert waren oder zeitweise dort gefilmt oder auch nur kurzfristige Besuche abgestattet hatten. Um nur einige Namen zu nennen: Ernst Lubitsch, Conrad Veith, Camilla Horn, Lilian Harvey, Marlene Dietrich. Hanns Eisler hatte er engagiert um eine Musik für The Circus zu komponieren.

Chaplin und der Erste Weltkrieg: ein Werbefilm und eine Reklamereise durch die USA für die Zeichnung von Kriegsanleihen. Erst 1919 kommt Shoulder Arms, in dem er den Kaiser entführt, in die Kinos. Ein doch eher zurückhaltendes Engagement?
Die Reklamereisen für Kriegsanleihen, denen sich Filmgrößen wie Chaplin ohne unangenehme Konsequenzen kaum entziehen konnten, waren für Chaplin eine lästige Unterbrechung an seiner Filmarbeit, ebenso wie die Herstellung des Werbefilms The Bond. Er kam am gleichen Tag heraus, an dem Ludendorf den Kaiser über die aussichtslose Lage informierte, am 29. September 1918, und eine knappe Woche vor dem Ersuchen an die Alliierten um einen Waffenstillstand – tatsächlich ein sehr zurückhaltendes Engagement! The Bond ist auch kein aufrüttelnder Kriegswerbefilm. Er zeigt vielmehr die unterschiedlichen Arten von „bonds“: die Bande der Freundschaft, der Liebe, der Ehe, und schließlich der Bande zum Vaterland. Es sind kleine lustige Sketche, die man – würde man die letzten Meter weglassen, in denen Charlie den Kaiser zu Fall bringt und ein Hurra! auf die Kriegsanleihen nimmt – als netten Zwischenakt spielen könnte.
Und Shoulder Arms hat auch in keiner Weise die Deutschen verunglimpft, wie zum Beispiel Erich von Stroheims Film The Beast of Berlin, in dem er unter anderem blutrünstige, deutsche Soldaten zeigt, die einer Mutter den Säugling aus den Armen reißen und aus dem Fenster werfen. Chaplin zeigt vielmehr, dass die Soldaten lieber am Broadway an der Bar sitzen würden als im nassen Unterstand, dass sie frieren, Heimweh haben und Angst vor dem Sterben. Die deutschen Soldaten in Chaplins Film sind keine Ungeheuer, sondern Menschen – Menschen, die sich freuen, endlich von ihrem tyrannischen Offizier befreit zu sein.

1931, Chaplins zweiter Aufenthalt in Berlin. Ein begeisterter Empfang durch das Publikum, schaut man in die damaligen Presseberichte. Es gab aber auch negative Stimmen, ja Anfeindungen?
Und wie! Die rechtsgerichtete Presse sprach von unangemessenem Rummel, von Rassegenossen und deren stumpfsinnigen Mitläufern, die sich im Jubel überschlagen, in voller Einigkeit mit den extremen Anfeindungen im „Völkischen Beobachter“ und im „Stürmer“. In der Berliner Zeitung „Tägliche Rundschau“ schrieb ein ehemaliger Major unter dem Pseudonym Rumpelstilzchen abfällige Glossen über Chaplins Besuch. Die Massen, die zu Chaplins Empfang gekommen sind, seien Arbeitslose, die eben dorthin gingen, wo es kostenlos etwas zu sehen gibt.

Ein Interview, das er angeblich für „Die Rote Fahne“ gegeben hatte, wurde von ihm zurückgezogen. Ist dies eine der vielen Enten um Chaplin?
Ich würde das nicht als Ente bezeichnen. Als Chaplin von den Reaktionen erfuhr, hat er dementiert, dass er ein Interview gegeben hätte. Es ist aber durchaus möglich, dass Chaplin bei dem Presserummel gegenüber einem Reporter eine Grußbotschaft an die Arbeitslosen gegeben hat, ohne im Einzelnen zu verstehen, für wen dieser Reporter schrieb. Ich glaube nicht, dass Chaplin bewusst der „Roten Fahne“ ein Interview gegeben hat, denn es wäre gegen seine Überzeugung gewesen, für eine Politik gleich welcher Art Stellung zu nehmen. Sein Anliegen war immer die Not der Menschen, der Verfolgten, aber er hat nie für Rechts oder Links Partei bezogen.

Chaplin und die Nazis. Ist es richtig, dass eine systematische Kampagne gegen die Person Chaplin und seine Filme stattfand? Nach der Machtergreifung wurden seine Filme nicht mehr gezeigt – jedoch gab es kein offizielles Verbot. Die Verleihfirmen wurden genötigt, die Filme „freiwillig“ vom Markt zu nehmen…
Ein Verbot von Chaplinfilmen wäre auf Unverständnis beim überwiegenden Teil des Publikums gestoßen, dessen erklärter Liebling Chaplin war. Aber es ging auch ohne Verbot. 1934 trat ein neues Lichtspielgesetz in Kraft, das alle Zensurkompetenz in Berlin konzentrierte. In mehreren Verordnungen wurde festgelegt, dass auch bereits zugelassene Filme zur Nachprüfung vorgelegt werden mussten, wenn sie Goebbels oder Hitler als oberste Instanz nicht gefielen; und letztlich 1935, dass allen Stummfilmen ab sofort die Zulassung entzogen wird. Eine Neuvorstellung war natürlich im Prinzip möglich, eine erneute Zulassung aber mehr als fraglich.
Ein Verbot gab es dann tatsächlich. Als die Deutschen mit Berichten in Filmzeitschriften über Modern Times und durch Pläne hinsichtlich einer Hitler-Parodie immer noch an ihren Liebling erinnert wurden, erging noch im Juli 1943 eine Anordnung der Reichspressekonferenz, dass jegliche Berichte über Chaplin zu unterlassen seien.

THE GREAT DICTATOR war Chaplins erster Tonfilm. Jetzt arbeitete er auch mit Sprache, karikierte Hitler, die Nazis, auch den Duce, und verkündete seine Botschaft für die Menschlichkeit… Es wird oft gesagt, dass sich Chaplin mit THE GREAT DICTATOR verändert und von seiner Figur des Charlie verabschiedet hat…
Im GROSSEN DIKTATOR hat er sich von der Maske des Tramp verabschiedet, er war jetzt ein „gutbürgerlicher Geschäftsmann“, ein Frisör mit eigenem Laden. Nur den naiven Glauben an Recht und Ordnung und das Gute im Menschen hatte er noch behalten, auch seine Schalkhaftigkeit und seine Überlebensgeschicklichkeit. Der wirkliche Tramp war zum letzten Mal in MODERN TIMES zu sehen.

Den Tramp Charlie – wie würden Sie ihn charakterisieren?
Am treffendsten haben das die Werbefachleute von IBM ausgedrückt: Chaplins kleiner Tramp ist für alle Bevölkerungsschichten liebenswert, er spricht Alt und Jung an. Er ist verletzlich, aber er ist clever. Er kommt in unglaubliche Schwierigkeiten, aber er findet immer einen Ausweg. Er ist Individualist. Er ist Jedermann. Und hinzufügen würde ich: Er tut das, was wir manchmal auch gerne tun würden: einem Polizisten ein Bein stellen, über einen Protz lachen, der auf einer Bananenschale ausrutscht, mit einem hübschen jungen Fräulein flirten und sie dem fetten Reichen ausspannen, einem Obsthändler einen Apfel klauen. Wir tun es nicht, weil wir es als nicht richtig erkennen, verzeihen es aber augenzwinkernd.

In Chaplins frühen Filmen ist der Tramp eine radikale, eine außergewöhnlich wilde Figur, die auch sehr gemein sein kann. Die Radikalität, die Wildheit wird im Lauf der Jahre sanfter, ja menschlicher…
Ja, aber er ist dieses Ekel nur, solange er unter konventioneller Regie steht, deren Rezept eben diese Eigenschaften sind. Aber schon bald, im ersten Jahr seines Filmschaffens, führt er selbst Regie nach eigenen Vorstellungen, führt Gefühle in seine Handlung ein, die wahrhaftig sind. Und das Publikum dankt es ihm an den Kinokassen!

Ist es richtig, dass das meiste Charlie-Spielzeug in Deutschland produziert wurde? Wir zeigen in der Ausstellung eine Menge dieser frühen Merchandising-Produkte aus Ihrer Sammlung. Was gab es da alles? Haben Sie ein Lieblingsstück?
Ob das meiste, wage ich nicht zu behaupten. Aber auf sehr vielen Spielzeugartikeln aus den Zwanziger Jahren, auch aus Amerika und England, findet man den Aufdruck ‚Made in Germany’.
Was gab es alles? Fragen Sie lieber, was es nicht gab. Lieblingsstücke gibt es natürlich, meist wegen der besonderen Geschichte des Erwerbs. Eines der Lieblingsstücke ist eine Postkarte mit einem dreidimensionalen Chaplin-Theater, die in Kopenhagen aufgegeben wurde und in Berlin unbeschädigt angekommen ist! Ein Hoch auf die damalige Post, vielleicht ist die Karte durch liebevolle Hände gegangen und besonders schonend transportiert worden.

Der Tramp ist das älteste und vermutlich erfolgreichste Merchandisingprodukt der Filmgeschichte. Charlie sells, er ist „the Bestseller“ – wieso ließ er sich so gut vermarkten? Steht dahinter sein eigenes Konzept?
Ob das erfolgreichste, weiß ich nicht – vielleicht ist die Micky Maus erfolgreicher. Aber dahinter steckt auch eine Marketingstrategie des Disney-Imperiums, während die Chaplin-Artikel immer nur von Drittfirmen hergestellt wurden, die natürlich Lizenzabgaben zu leisten hatten, aber ansonsten frei am Markt handeln konnten.

Wie sehen Sie heute die Trampfigur, wie wird Charlie heute wahrgenommen? Ist da nicht die Gefahr, dass er zum ‚stummen Diener’, ja, zum Dekor-Objekt reduziert wird?
Ich sehe das nicht als Gefahr, sondern als ständige Erinnerung, die dann wiederbelebt wird, wenn ein Film gezeigt wird. Nicht unbedingt dann, wenn ein Film im Fernsehen läuft, wo man nebenbei strickt, kocht oder isst. Aber wenn man einen Film in einem großen Saal mit Live-O rchesterbegleitung sieht, dann ist das Erleben wieder wie damals: mitweinen, mitlachen, Applaus auf „offener Bühne“.

Was kann Charlie Chaplin der heutigen Gesellschaft geben?
Menschlichkeit, Liebe, Hoffnung, Wahrheit, Würde.

Charlie Chaplin wird oft mit einem Vertreter von Gerechtigkeit und Menschlichkeit verglichen – was halten Sie persönlich davon?
Das kann ich durchaus unterstützen. Chaplin ist immer für die Verfolgten eingetreten, ganz gleich, ob sie von Links oder Rechts verfolgt wurden. Er war auch nie Pazifist in dem Sinn, dass man dem Angreifer nach der linken Backe auch die rechte hinhalten soll, sondern er hat durchaus – in THE GREAT DICTATOR – die Soldaten aufgerufen sich zu wehren, sich nicht als Kanonenfutter ausnutzen zu lassen, sondern für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Chaplin und der Tonfilm, eine schwere Geburt. Lange hat er überlegt, ob er einen weiteren Stummfilm oder einen Tonfilm machen soll. Warum hat er gezögert?
Er hat sich darüber mehrfach geäußert und hat vor allem künstlerische Motive genannt. Es war ja in der Tat ein Problem, wie der Tramp sprechen sollte: ganz normal oder quäkig wie Micky Maus? Letztlich hatte er ja nichts zu sagen, denn alle seine Gefühle drückt er durch Mimik aus. Selbst viele der Zwischentitel in seinen Stummfilmen sind eigentlich überflüssig. Man versteht die Handlung auch ohne sie.
Chaplin hatte sich durchaus schon sehr früh mit dem Tonfilm befasst, hat Technik ausprobiert, aber sie passte nicht zu seiner gewohnten Arbeitsweise, der Improvisation, der stetigen Verfeinerung des Spiels in dutzenden oder mehr Wiederholungen der Aufnahmen, des Schnitts.
Vielleicht waren für den Geschäftsmann Chaplin auch wirtschaftliche Überlegungen wichtig. Seine stummen Filme konnten mühelos in alle Welt verkauft werden, indem man lediglich die Zwischentitel auswechselte. Aber wer sollte den Tramp synchronisieren? Und in der Anfangszeit gab es keine Sychronisation im Studio, die Filme mussten in mehreren Sprachen gedreht werden, zum Teil mit anderen Schauspielern, welche die Sprache kannten.
Dass Chaplins Stimme sich sehr gut für den Tonfilm eignete, zeigen seine späteren Filme – aber da spricht nicht mehr der Tramp, sondern der Frisör oder der Heiratsschwindler.

Musik war für Charles Chaplin sehr wichtig, er komponierte, arrangierte…
Ja, seine Musik ist auch kongenial. Keine unbedingt große Musik – obwohl seine Musik für Rampenlicht stellenweise sinfonische Kraft hat, die Musik für Goldrausch zuweilen wagnerisch klingt -, aber dennoch hat er Evergreens komponiert: „Limelight-Thema“, „Love is my Song“, „Smile“, „Mandoline Serenade“…

Würden Sie sagen, dass Chaplin ein Genie war?
Wenn Sie Genie so definieren, dass ein Mensch eine Idee aus dem Bauch oder aus dem Kopf spontan – quasi als Geniestreich – realisiert und sein Werk dann die Betrachter fasziniert, dann würde ich es verneinen. Wenn Sie aber Genie so definieren, dass mit unendlichem Fleiß, ja mit Besessenheit, den Gefühlen folgend oder auch intellektuell begründet, eine Idee verwirklicht wird, die den Betrachter in den Bann zieht, ihn mitempfinden und sich mitidentifizieren lässt, über Sprach-, Zeit- und Kulturgrenzen hinweg – dann war er bestimmt ein Genie.

Gibt es für Sie den Mythos Chaplin? Hat sich dieser nach seinem Tod verändert?
Es ist für mich kein Mythos, sondern Realität, die aus seinen Biografien spricht und aus seinen eigenen Veröffentlichungen. Und auch seine Werke sind kein Mythos, sondern jederzeit in seinen Filmen neu zu erleben. Nach seinem Tod ist die Diskussion um Chaplin sicherlich ruhiger, objektiver geworden, weil man jetzt eher seine Erfolge sieht als dass man kleinlich seine Fehler bekrittelt.

Die Fragen stellte Hans-Peter Reichmann. Mitarbeit: Johanna Hebel

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